Über die Bedeutung hämatologischer Laborparameter im Bezug auf die Erfolgsrate freier mikrochirurgischer Lappenplastiken – Eine retrospektive Analyse als Grundlage zur Entwicklung evidenzbasierter Transfusionsstrategien

IAKH Förderpreis 2019

 

Benjamin Thomas, BG Unfallklinik Ludwigshafen, Plastische Chirurgie

 

1      Hintergrund

Unsere Haut schützt uns vor tödlichen Gefahren wie Unterkühlung und Austrocknung, verhindert die Verletzung lebenswichtiger Strukturen, ermöglicht Sinneswahrnehmungen und stellt das wichtigste Bollwerk gegen Krankheitserreger dar. Haut- und Unterhautverlust durch Unfälle oder Verbrennungen, offene Wunden durch Infektionen, Gewebedefekte nach Tumoroperationen, oder Druckgeschwüre bettlägeriger Patienten sind nur einige wenige Beispiele des Arbeitsgebietes der rekonstruktiven Mikrochirurgie. Das Ziel von Wiederherstellungsoperationen ist dabei vor allem die Integrität des Weichteilmantels und Kontinuität der Hautoberfläche.

Glücklicherweise weist unsere Haut jedoch eine eindrucksvolle Selbstheilungs- und Regenerationsfähigkeit auf, die sich durch das Vorhandensein von Stammzellen erklärt. Allschichtige Hautdefekte, welche mit einem Verlust der Stammzellschicht einhergehen, heilen jedoch nicht von selbst. Liegen sog. „funktionelle Strukturen“ frei (z.B. Knochen, Nerven, Blutgefäße, Gelenke, Sehnen) oder kann ein Defekt nicht einfach vernäht werden, wird er als „kritisch“ bezeichnet. Zur Defektrekonstruktion verbleibt nur eine einzige Möglichkeit: der Transfer durchbluteten Gewebes.

Hierzu müssen allschichtige „Lappenplastiken“, bestehend aus Muskel- oder Haut und Fettgewebe mit dazu gehörigem Gefäßstiel, mikrochirurgisch, d.h. unter Verwendung eines Operationsmikroskops, an einer gesunden Körperstelle entfernt und an Gefäße in der Empfängerregion angeschlossen (anastomosiert) werden. Mit einfachen Hauttransplantaten, die keine eigene Blutversorgung aufweisen, kann eine Versorgung dieser Wunden nicht erreicht werden und es kommt zu schweren Folgen wie Absterben tieferer Strukturen, oder gar chronischen Knocheneiterungen und Blutvergiftungen. Um dies abzuwenden, werden in Deutschland pro Jahr etwa 7.000 solcher freien Lappenplastiken verpflanzt.

Die Durchgängigkeit der mikrochirurgisch verbundenen Gefäße ist für den Therapieerfolg post operationem allentscheidend, da die Blutversorgung des transplantierten Gewebes einzig und allein über diese Gefäßachse erfolgt. Dementsprechend ist das hämostaseologische Gleichgewicht dabei von zentraler Bedeutung, da eine Thrombosierung an der Gefäßverbindung (Anastomose) oder Blutung unter der Lappenplastik mit Kompression der Gefäße fatale Folgen hat. Sowohl Normabweichungen der primären, als auch der sekundären Hämostase, können daher für den Patienten und seine Lappenplastik zum Verhängnis werden. Darüber hinaus nimmt die systemische und lokoregionäre Hämodynamik nach freien Lappenplastiken eine ebenso wichtige Stellung ein. Hier spielen neben dem intravasalen Volumenstatus des Patienten auch Änderungen des Gefäßtonus, Anzahl der verfügbaren Sauerstoffträger, Applikation kreislaufwirksamer Medikamente und Transfusion von Blutprodukten eine wichtige Rolle.

Im Gegensatz zur stetig wachsenden Expertise auf dem Feld der „Lappenchirurgie“ steckt die erfolgsentscheidende Partnerdisziplin der „mikrochirurgischen Hämatotherapie“ noch in den Kinderschuhen. Prospektive klinische Studien sucht man vergeblich und evidenzbasierte Leitlinien fehlen zum Großteil. Lediglich standortspezifische Erfahrungswerte bilden heutzutage die Grundlage des perioperativen Gerinnungsmanagements in der Mikrochirurgie.

 

 

2      Methoden und Messwerte

Eine retrospektive Datenanalyse freier Lappenplastiken zur unteren Extremität im Kollektiv der BG Unfallklinik Ludwigshafen von 2002 bis 2014 erbrachte 638 Fälle. Die definierten Outcomeparameter waren totaler Lappenverlust, arterielle und venöse Gefäßthrombosen und akute Nachblutungen mit evakuationspflichtigen Hämatomen unter der Lappenplastik. Die analysierten unabhängigen Variablen umfassten Patientenalter und -geschlecht, Risikofaktoren wie Adipositas und Nikotinabusus, Ergebnisse der präoperativen Rotationsthrombelastometrie (ROTEM) und weitere präoperative Laborparameter inkl. International Normalized Ratio (INR), Partielle Thromboplastinzeit (PTT), Fibrinogenkonzentration (Fbng), Thrombozytenzahl (Thr), Hämatokrit (Hkt) und Hämoglobinkonzentration (Hb).
Die Signifikanz dichotomer Variablen wurde mit dem exakten Test nach Fisher, die Signifikanz intervallskalierter Variablen mit dem einfachen T-Test in Graphpad Prism Version 7 (Graphpad Software Incorporated, La Jolla, Kalifornien, USA) berechnet.

 

 

3      Stand der Entwicklung und bisherige Ergebnisse

Das mittlere Patientenalter betrug 50 Jahre (7 – 89 Jahre). 491 Patienten waren männlich (77%) und 147 weiblich (23%). 333 Patienten (52%) litten an unfallbedingten Weichteildefekten. Weitere Ätiologien waren ausgeprägte Infektionen in 149 Fällen (23%), chronische Wunden aufgrund peripherer Gefäßverschlüsse oder Diabetes mellitus in 99 Fällen (16%) und elektive Malignomresektionen in 26 Fällen (4%). 31 Patienten (5%) wurden wegen Wundheilungsstörungen oder Dehiszenzen nach vorausgegangenen Operationen vorgestellt. Betroffen waren 166 Füße (26%) und 45 Sprunggelenke (7%), sowie 383 Unterschenkel (60%) und 43 Knie bzw. Oberschenkel (6%). Die Operationszeit betrug 417 Minuten (140 – 883 Minuten). Insgesamt gingen 35 Lappenplastiken verloren (5,5%). Es ereigneten sich Gefäßverschlüsse in 68 Fällen (10,7%). Davon waren 24 (3,8%) arterielle, 27 (4,2%) venöse und 17 (2,7%) kombinierte Thrombosen. 56 Hämatome wurden notfallmäßig entlastet (8,8%). 345 Patienten (54%) erhielten präoperativ eine ROTEM-Analyse.

Sowohl die Lappenverlustrate (3,2% vs. 8,2%, odds ratio 2,7), als auch die Gefäßthromboserate (7% vs. 15%, odds ratio 2,4), war nach präoperativer ROTEM-Analyse signifikant geringer (p=0,008 und p=0,001). Patienten mit Lappenverlusten wiesen signifikant erhöhte Thr auf (487 ± 54 x 103/µl vs. 371 ± 7 x 103/µl, p<0,001), ebenso wie Patienten mit Gefäßverschlüssen (443 ± 35 x 103/µl vs. 369 ± 7 x 103/µl, p=0,001). Eine erhöhte PTT (38,3 ± 1,9 sec vs. 35,0 ± 0,4 sec, p=0,019) war ein signifikanter Risikofaktor für die Entwicklung relevanter Hämatome.

Nachfolgende Subanalysen zeigten signifikant erhöhte Fbng- (559 ± 63 mg/dl vs. 461 ± 9 mg/dl, p=0,043) und Thr-Zahlen (471 ± 48 x 103/µl vs. 371 ± 7 x 103/µl, p<0,001) bei arteriellen Thrombosen, sowie signifikant höhere BMI- (28,8 ± 1,1 kg/m2 vs. 26,6 ± 0,2 kg/m2, p=0,015) und Thr-Werte (451 ± 46 x 103/µl vs. 371 ± 7 x 103/µl, p=0,004) bei venösen Thrombosen. Innerhalb des Kollektivs mit ROTEM waren erhöhte Maximal Clot Firmness-Werte zudem signifikante Risikofaktoren für Lappen-verluste (ExTEM: 76,1 ± 1 mm vs. 71,9 ± 0,3 mm, p=0,026; InTEM: 75 ± 1 mm vs. 68,6 ± 0,4 mm, p=0,008; FibTEM: 34,6 ± 2 mm vs. 25,7 ± 0,5 mm p=0,003).

 

 

4      Schlussfolgerungen und Zukunftsperspektive

Mikrochirurgische Gewebetransfers stellen in spezialisierten Zentren mit entsprechender Expertise beteiligter Disziplinen sichere Verfahren mit äußerst geringen Komplikationsraten dar. Bereits einfache hämatologische Laborparameter lassen präoperativ wichtige Rückschlüsse auf das Risikoprofil der Patienten  zu. In diesem Rahmen erlaubt v.a. die ROTEM-Analyse eine präoperative Risikostratifizierung und ermöglicht durch eine zielgerichtete perioperative Hämatotherapie eine beachtliche Risikoreduktion. Mit über 300 freien Lappenplastiken im Jahr ist die BG Unfallklinik das größte Zentrum seiner Art in Deutschland und verfügt über einen einzigartigen Erfahrungsschatz hinsichtlich der „Lappenchirurgie“ und des perioperativen Gerinnungsmanagements.

Der Bewerber ist durch den Direktor der Klinik mit dem Erstellen einer retrospektiven Datenbank aller freien Lappenplastiken der vergangenen 10 Jahre betraut, wovon wir uns richtungsweisende Erkenntnisse bzgl. der „mikrochirurgischen Hämatotherapie“ erhoffen. Basierend auf den gewonnen Erkenntnissen soll im Anschluss eine prospektive klinische Studie wichtige Fragen hinsichtlich restriktiver versus liberaler Transfusionsstrategien nach freien Lappenplastiken beantworten.

 

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