Covid-19, Blutungen und Antikoagulation

Al-Samkari H, et al. COVID and Coagulation: Bleeding and Thrombotic Manifestations of SARS-CoV2 Infection. Blood 2020 Jun 3;blood.2020006520. doi: 10.1182/blood.2020006520.

Bevor die Empfehlungen einer stringenten und geringschwelligen Antiokoagulation bei stationären Covid19-Patienten kamen, wurden Thromboseraten von 30% und Inzidenzen einer disseminierten intravasalen Gerinnung bis zu 70% berichtet. Eine eskalierende Dosierung der Antikoagulantien ist von einigen Einrichtungen und Autoren kritisch hinsichtlich der Blutungsgefahr beurteilt worden.

Eine retrospektive Recherche in den Krankenakten von stationären symptomatischen und symptomatischen Covid-19 Erkrankten aus 5 Einrichtungen in Boston sollte nun einen Anhalt geben, ob die intensivierten Antikoagulationsempfehlungen gerechtfertigt sind und in der üblichen Höhe ausreichend effektiv sind.
Vom Anfang April bis zum Ende Mai wurden 400 von 419 Erwachsene stationär mit einem positiven PCR-Test aufgenommen, davon waren 144 so schwer erkrankt, dass sie auf die Intensivstation aufgenommen wurden. Alle wurden zunächst standardisiert mit der üblichen Dosierung zur Thromboseprophylaxe behandelt und nur bei besonderen Anhaltspunkten therapeutisch dosiert. 

Bei allen stationären Patienten fanden sich radiologisch gesicherte Thromboembolien in 4.8% (95% CI, 2.9-7.3%), davon mehr als doppelt so viele bei Intensivpatienten 7.6% (95% CI, 3.9-13.3%) vs. 3.1% (95% CI, 1.4-6.1%). Da bei einigen Patienten die klinischen Kriterien eindeutig waren, die Diagnose aber aus verschiedenen Gründen nicht radiologisch gesichert werden konnte, ergab sich eine Gesamtrate von 6% (95% CI, 3.9-8.8%) bzw. eine beinahe 3-fach höhere Rate 10.4% (95% CI, 5.9-16.6%) bei Intensivpatienten (vs. 3.5% (95% CI, 1.6-6.6%)). Alle Patienten mit Thromboembolien hatten vor dem Ereignis eine prophylaktische Dosierung von umfraktioniertem oder niedermolekularem Heparin (außer einem unter Apixaban) erhalten. Arterielle Thrombosen traten bei diesen Patienten in 10,5% gleichzeitig auf, sonst in 2.8% (95% CI, 1.4-4.9%) aller Patienten (1,2% bei nicht-kritisch Kranken und 5,6% auf der ICU). Unter den 11 Patienten waren 9 N-STEMIs, eine instabile Angina pectoris und einen Fall mit bilateralen Verschlüssen der Arterienkanülierung. Die venovenöse ECMO thrombosierte rezidiveren bei 75% der Fälle (8 von 12 ECMO Behandlungen) in der Phase der Aufdosierung auf therapeutische Höhe, 2 von 12 Echo-Behandlungen thrombosierten im extrakorporalen Kreislauf trotz therapeutischer Dosierung. Wiederholte Thrombosierung der zentralvenösen und arteriellen Katheter erforderte bei 2 Patienten die mehrfache Punktwertung und Kanülierung. Die Entzündungsparameter Blutsenkung, CRP, Fibrinogen, Ferritin und Procalcitonin bei Aufnahme waren bei Patienten mit Thrombosen höher und hatten einen signifikanten Vorhersagewert (Odds Ratio OR) für Thrombosekomplikationen. Besonders die D-Dimere von 1000-2500 mg/dl waren mit einem 3fach höheren Risiko assoziiert (3.04 (95% CI, 1.26-7.31), darüber mit einem OR von 6.79 (2.39-19.30, P<0.001).

Der generellen Thromboserate von 9.5% (95% CI, 6.8-12.8%, 45 Ereignisse bei 38 Patienten standen Blutungskomplikationen von 4.8% (95% CI, 2.9-7.3%, 21 Ereignisse bei 19 Patenten) gegenüber. Bei Intensivpatienten (7.6% (95% CI, 3.9-13.3%)) ereigneten sich Blutungen mehr als doppelt so häufig wie bei Patienten ohne kritische Erkrankungsschwere (3.1% (95% CI, 1.4-6.1%)). Schwere Blutungen (WHO Grad 3-4) traten bei 2.3% (95% CI, 1.0- 4.2%) der Patienten auf, beinahe ausnahmslos bei Intensivpatienten (2.3% (95% CI, 1.0- 4.2%)) und in einem Fall letal (ICB).

Disseminierte Gerinnungsstörung DIC trat bei 3 Fällen auf. Thrombopenie unter einer Thrombozytenzahl von 100 000/µl oder 50 000/µl war bei 10,3% bzw. 2,5% der Fälle festzustellen; assoziiert mit einer schwereren Blutung war die Anzahl der Thrombozyten bei 40% der Patienten mit schwerer Thrombopenie < 50 000/µl. Das Risiko einer Blutungskomplikation war bei einer Thrombopenie unter 150 000/µl 2,9 fach erhöht (OR 2.90 (95% CI, 1.05-7.99)) und bei einer D-Dimer-Erhöhung über 2500 ng/mL 3.56 fach (OR (95% CI, 1.01-12.66).

Die in dieser Studie festgestellte Thromboemboliegefahr unter Covid-19-Patienten ist in der vergleichbaren Dimension wie bei intensivpflichtigen nicht-Covid-19-Patienten (7-10%). Da die schon unter Standardprophylaxe existierende Blutungsgefahr bei Covid-19 in dieser Studie beträchtlich sei und im Vergleich zur Thromboemboliegefahr bislang unterbeachtet sei, schlussfolgern die Autoren, dass die Dosissteigerung zur therapeutischen Antikoagulation bei Covid-19 mit extremer Vorsicht zu betrachten sei.

Das widerspricht vielen Empfehlungen und der eher vorherrschenden Meinung der großzügigen Indikationsstellung zur intensivierten Antikoagulation. Zwar betonen die Autoren die Notwendigkeit der Erprobung neuer Dosierungen bei Covid-19  durch kontrollierte Studien- eine Forderung, die durchaus unterstützt werden kann. Diesbezüglich sind bereits einige kontrollierte Studien unterwegs (NCT04359277, NCT04362085, NCT04345848, NCT04366960).

Sonst sehe ich diesen Artikel kritisch. Zwar sind letale Blutungen wie die berichtete Hirnblutung zweifellos zu den möglichen Komplikationen einer Antikoagulation, sonst aber sind viele der angegeben WHO Grad 3 und 4 Blutungen* beherrschbar durch eine differenzierte Volumen-, Katecholamin- und Blutprodukttherapie zu beherrschen. Die als gering eingeschätzten Thromboembolieraten in dieser Studie sind es auch, aber in einer retrospektiven Studie sind Thrombosen und Embolieraten im Allgemeinen nur wenig verlässlich und meist falsch zu niedrig aus der Aktenlage eruierbar, da eine beträchtliche Anzahl der kleineren und klinisch unbemerkten Thromboembolien nicht registriert wird.

Die extrem niedrige Thromboembolierate und im Widerspruch zu den bisherigen Berichten stehende Rate an DIC bei COVID-19  in dieser multizentrischen Kohorte wirft Fragen nach der Datenqualität und Glaubwürdigkeit dieses Berichts auf, die in einer so hochrangigen Zeitschrift wie Blood sicher viel diskutiert werden wird. 

Pubmed

Für Sie gelesen von Th. Frietsch

* WHO-Blutungsskala

WHO Blutungsskala nach Kaufman RM, Djulbegovic B, Gernsheimer T, et al. Platelet transfusion: a clinical practice guideline from the AABB. Ann Intern Med. 2015;162(3):205-213

Zurück