Diagnose seltener Gerinnungsstörungen - Die Bedeutung der Hochleistungssequenzierung

Meijer K et al. Diagnosis of rare bleeding disorders. Haemophilia. 2021 Feb;27 Suppl 3:60-65. doi: 10.1111/hae.14049.

Eine frei zugängliche Übersichtsarbeit in "Haemophilia" hat drei Fallberichte zum Anlass genommen, die diagnostische Vorgehensweise bei seltenen Gerinnungsstörungen und die Bedeutung von neuartigen molekularbiologischen Methoden bei der Klärung von genetischen Ursachen darzustellen. Obwohl die Bedeutung zur Abgrenzung von erworbenen Gerinnungsstörungen in den Händen der Hämostaseologen in speziellen Strukturen liegt, ist es wichtig, dass auch der unspezialisierte klinische Hämotherapeut um das gestufte diagnostische Vorgehen und die weitreichenden hochtechnisierten Möglichkeiten weiß.

Die Prävalenzen der Gerinnungsstörungen in den zivilisierten Ländern verdeutlichen, dass der Begriff "seltene Gerinnungsstörungen" relativ zu sehen ist: Hämophilie A 12%, Hämophilie B 3%, Faktor XI Mangel 13% (spezielle Bevölkerungsstruktur in den UK unter Einbezug auch milder heterozygoter Formen). In Anbetracht dieser Zahlen, die aus der Gerinnungsdatenbank in UK bzw. von einer Umfrage der internationalen Hämophilie-Gesellschaft stammen, bleibt der Verdacht, dass seltenere Gerinnungsstörungen nicht ausreichend diagnostiziert werden. Der Verdacht ist, dass viele ungeklärte Gerinnungsneigungen unter der Diagnose Immunthrombozytopathie/-penie (ITP) subsummiert werden. Damit sind erhebliche Risiken verbunden, zum Beispiel wenn eine eventuell unnötige immunsuppressive Therapie begonnen wird oder zur Sectio keine Spinalanästhesie durchgeführt werden kann. Auf der anderen Seite demonstrieren die neusten Behandlunsmöglichkeiten von vererbten Blutgerinnungsstörungen wie der Hämophilie mit der quasi normalen Lebensqualität der Betroffenen die Bedeutung einer erfolgreichen Diagnose.

Ein Algorithmus zur diagnostischen Planung der Diagnosestellung bei unklaren Gerinnungsstörungen wird erläutert und auf die verschiedenen Gewebe und Komponenten einer funktionierenden Thrombusbildung abgestimmt. Bei erhöhter Blutungsneigung (skaliert im standardisierten Blutungsuntersuchungsscore (BAT)) und unauffälligem Routinescreening sind spezielle Funktionstest der Faktorenkonzentration, Plättchenfunktion, Fibrinolyse und Genanalytik zur Diagnostik empfohlen.

Speziell die Gendiagnostik und Sequenzierungen werden immer bedeutender, auch wenn die Bedeutung von Pseudogenen und die Komplexität von Molekülen (z.B. des von Willebrand Faktors VWF) ihre Anwendung erschwert. Die parallele Sequenzierungstechnik von größeren DNA-Abschnitten, die sogenannte "High-Throughput"  oder "Next-Generation"-Sequenzierung bietet heutzutage eine plausible und erschwingliche Diagnostikmöglichkeit. Darüberhinaus hat sich das Wissen um bekannte Sequenzen und pathogene Varianten durch die neue Technik und digitale Verarbeitungsmöglichkeiten erheblich weiterentwickelt. Ein gutes Beispiel ist das Hermansky-Pudlak-Syndrom, eine spezielle Form der vererbten Lungenfibrose und granulomatöse Colitis, für die heutzutage mehr als 10 genetische Auslöser, aber nur 3 echte "Patho-Gene" für die Lungenfibrose bekannt sind. Vor allem veändert diese neue Technik unser bisheriges Verständnis von Genfunktion und beleuchtet die Bedeutsamkeit einer Veränderung für den Phänotyp, da wir ein und dieselbe Genvariante, zum Beispiel bei der May-Hegglin-Anomalie (MYH9-Thrombopenie) von einer recht milden Pathogenität zu erheblichen Schweregraden beim Epstein-, Fechtner- oder Sebastian-Syndrom verbunden finden. Eine Liste von Genen, die für Gerinnungsstörungen verantwortlich sein können, findet sich auf der Webseite der Gesellschaft ISTH.

Die vorgestellten hypothetischen 3 Fälle von Gerinnungstörungen und einer auffälligen Gerinnungsanamnese, jedoch unklarer Diagnose, werden ausführlich diskutiert. Es wird deutlich, dass die neuen diagnostischen Möglichkeiten nicht nur mit höherer Erfolgsquote eine zugrundeliegende Genvariante finden, sondern auch, dass derzeit nicht immer die Pathogenität der gefundenen Veränderungen zugeordnet werden kann und dass die Kombination von mehreren Veränderungen, die alleine nicht pathogen sind, eine Gerinnungsstörung auslösen kann.

Dass die milde Blutungsneigung, die nicht weiter geklärt werden kann, zumindest bei mittel großen Eingriffen gut mit Tranexamsäure (TXA) oder Desmopressin (DDAVP) behandelt werden kann, wissen wir aus Kohortenstudien und der klinischen Erfahrung. Dass eine intensivierte Diagnostik für das weitere Leben der Patienten und ihre Angehörigen wichtig werden kann, haben die drei Fallbeispiele dieses Artikel unter Einsatz einer hochtechnisierten Diagnostik demonstriert. Es ist also nicht immer einfach, die Erwägung zur Weiterführung der Diagnostik an der Stärke der Blutungsneigung festzumachen.

Für die meisten Fälle und unter Betrachtung der aktuellen Daten- und Infrastruktur wird die phänotypische Ausprägung der Gerinnungsstörung dennoch den wichtigsten Ausschlag geben, ob der Algorithmus bis zur High Throughput-Sequenzierung geführt werden soll und kann.

 

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Für Sie gelesen von Th. Frietsch

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