Die europäische Leitlinie zum Blutungsmanagement bei Unfallverletzten

Spahn DR et al. The European guideline on management of major bleeding and coagulopathy following trauma: fifth edition. Crit Care. 2019 Mar 27;23(1):98. doi: 10.1186/s13054-019-2347-3.

Die von 6 europäischen Fachgesellschaften in 2004 gegründete "Task Force for Advanced Bleeding Care in Trauma" hat die 5. Auflage der Leitlinie veröffentlicht.

Die Methodologie ist sauber, die Empfehlungsgrad reichen von 1 - Starke Empfehlung ( die Vorteile überwiegen die Risiken & Nachteile) bis 2 -Schwache Empfehlung (die Vorteile und Risiken halten sich beinahe die Waage bis ), die Evidenzgrade nach dem Oxford center for Evidence Based Medicine (OCEBM) eingeteilt von A -hoch (aus RCTs ohne Imitationen oder nicht widerlegbare Ergebnisse von Observationsstudien), B -mittlere (aus RCTs mit Limitationen bzw Observationstudien mit eindeutigen Ergebnissen),C- geringe oder sehr geringe Datenqualität (aus Observationsstudien oder Fallserien).

Im Text ist zunächst die Empfehlung mit dem Empfehlungsgrad erwähnt und anschließend eine narrative Erklärung gegeben. Die Empfehlungen begleiten den bereits in der früheren Version sehr komplexen graphischen Algorithmus und versucht durch die thematische Ordnung in 9 Kapiteln einen nahezu temporären Handlungsfaden anzubieten. Wir haben hier der Verständlichkeit alle 38 Empfehlungen aufgeführt. 

Folgende Empfehlungen wurden gegeben (hier nur in umkommentierter "Kurz"version):

I Initiale Wiederbelebung und Begrenzung des Blutverlusts

1. Verkürzung der Behandlungsverzögerung: Schwerverletzte sollen direkt zum nächsten Traumazentrum transportiert werden (Grade 1B)

2. Wund-Behandlung: Lokale Kompression (Grade 1A), Tourniquet für offene Extremitäten vor chirurgischer Weiterversorgung (Grade 1B), bei Beckenfrakturen eine Kompressionsmaßnahme/Beckenbandage (Grade 1B)

3. Beatmung: Vermeidung von Hypoxämie (Grade 1A), Normoventilation (Grade 1B), Hyperventilation nur bei Zeichen der bevorstehenden zerebralen Herniation (Grade 2C)

II Blutungsdiagnose und Monitoring

 

In diesem Kapitel gibt eine Tabelle 3 die Klassifizierung der Blutung in 4 Klassen nach den ACLS Guidelines wieder (Orginalquelle: American College of Surgeons Committee on Trauma . ATLS® Student Manual 10th Edition. Chicago: American College of Surgeons; 2018)

 

Parameter

 

Blutung Klasse 1

Klasse 2 (mild)

Klasse 3 (moderat)

Blutung Klasse 4 (massiv)

Geschätzter Blutverlust des Blutvolumens

< 15%

15-30%

31-40%

>40%

Herzfrequenz

↔ / ↑

↑/ ↑↑

Blutdruck

↔ / ↓

Pulsdruck

Atemfrequenz

↔ / ↑

Urinproduktion

↓↓

Glasgow Coma Scale Score

BE

0 bis − 2 mEq/L

– 2 bis −6 mEq/L

– 6 bis−10 mEq/L

< −10 mEq/L

Transfusionsbedarf

Erwägen

Möglich

Definitiv

Massivtransfusion

4. Klinische Beurteilung der Blutung durch Betrachtung des Patientenzustandes inclusive Vorerkrankungen, anatomisches Verletzungsmuster und -mechanismus sowie den Erfolg auf die initiale Therapiemaßnahmen (Grade 1C). Der Schock Index (SI) sollte zur Schweregrad-Einteilung der Hypovolämie benutzt werden (Grade 2C)

5. Maßnahmen zur Blutungskontrolle bei sichtbaren Blutungsquellen oder bei Patienten mit schwerem Schock und vermuteter Blutungsquelle sollten unverzüglich unternommen werden (Grade 1C)

6. Alle anderen und die Patienten mit nicht geklärter Blutungsquelle sollen unverzüglich weiterer Diagnostik zugeführt werden (Grade 1C)

7. Dabei steht die Ultraschalluntersuchung FAST (focused assessment with sonography in trauma) zur Diagnose freier Flüssigkeit bei Patienten mit Rumpftrauma (Grade 1C) an erster Stelle. Frühzeitig sollte ein Ganzkörper-Computertomogramm mit Kontrastmittel zur Diagnose von Verletzungsmuster und Blutungsquellen durchgeführt werden (Grade 1B)

8. Eine ausgeprägte Anämie (Niedriger Hämoglobinspiegel (Hb)) soll als Hinweis einer schweren Blutung mit Koagulopathie interpretiert werden (Grade 1B). Auch in Fällen mit normalem Hb sollen wiederholte Hb-Messung im Verlauf als Blutungsmarker dienen, da die initiale Hb-Konzentration eine Blutung nicht verlässlich anzeigt (Grade 1B)

9. Serum-Laktatspiegel und Basenüberschuss (im Trauma eher Defizit) sind sensitive Tests um das Ausmaß von Schock und Blutung weiter nachzuverfolgen (Grade 1B)

10. Das Gerinnungsmonitoring sollte früh und wiederholt entweder durch die kombinierte traditionelle Laborbestimmung von Quick/INR (Prothrombinzeit (PT)), Thrombozytenzahl und Fibrinogenspiegel (n.Clauss ) und/oder Point-of-Care (POC) Messung von PT/INR und/oder von viskoelastischen Methoden (VEM) erfolgen (Grade 1C). Patienten mit bekannter oder vermuteter iatrogener Antikoagulation sollen ein Laborscreening erhalten (Grade 1C)

11. Bei Patienten unter vermuteter Plättchenaggregations-Hemmung könnten zusätzlich Plättchenfunktionstests zusätzlich zum Routinelabor und /oder POC Gerinnungsmanagement benutzt werden (Grade 2C)

 

III Gewebeoxygenierung, Volumenersatzlösungen, Temperatur 

12. Permissive Hypotension: Bis zur definitive Blutstillung sollen in der Initialphase systolische Blutdruckwerte von 80–90 mmHg oder ein mittlerer arterieller Druck MAP von 50–60 mmHg toleriert werden (Grade 1C). Bei Patienten mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma (SHT) (GCS ≤ 8) soll ein MAP ≥ 80 mmHg aufrechterhalten werden (Grade 1C)

13. Zum Erreichen des Zielblutdrucks soll ein restriktiver Volumenersatz angewendet werden, solange die Blutung nicht gestillt ist (Grade 1B).

14. Bei lebensbedrohlicher Hypotension sollen Vasopressoren zusätzlich zum Volumenersatz zur Anwendung kommen (Grade 1C). Bei Myokardinsuffizienz/-Dysfunktion sollen inotrope Substanzen eingesetzt werden (Grade 1C). Der Volumenersatz soll initial vorrangig mit isotonischen Kristalloiden beim blutenden und hypotensiven Unfallopfer durchgeführt werden. (Grade 1A)

15. Art des Volumenersatzes: Es sollte balanzierte Kristalloide verwendet und NaCl-Lösungen vermieden werden (Grade 1B). Hypotone Lösungen wie Ringerlaktat sollen bei Svhädel-Hinr-Traumata vermieden werden (Grade 1B). Kolloide sollen aufgrund der unerwünschten Hemmung der Gerinnung nur begrenzt zur Anwendung kommen (Grade 1C)

16. Transfusionstrigger/Zielbereich Hb 70 - 90 g/L (Grade 1C)

17. Wärmemanagement: Zur Optimierung der Gerinnung sollen frühzeitig Wärmekonservierungsmaßnahmen mit dem Ziel der Reduktion von Wärmeverlust und der Erhaltung von Normothermie angewendet werden (Grade 1C)

IV Rasche Blutungskontrolle

18. Der chirurgischen Damage-Control-Strategie soll beim Verletzen in tiefem hämorrhagischen Schock mit Zeichen der ungestillten Blutung und Koagulopathie Vorrang vor definitiven chirurgischen Versorgungen eingeräumt werden (Grade 1B). Diese Strategie soll ebenso beim Vorliegen von Hypothermie, Azidose, anatomisch nicht zugängliche Verletzung, Zeitaufwendige chirurgische EIngriffe oder schwere Begleitverletzungen außerhalb des Abdomens angewendet werden (Grade 1C). Die primäre definitive chirurgische Versorgung ist nur bei hämodynamisch stabilen Patient ohne die obigen Faktoren vorzunehmen (Grade 1C)

19. Die Beckenringfraktur soll unverzüglich chirurgisch mit komprimierrenden und/oder stabilisierenden Maßnahmen versorgt werden(Grade 1B)

20. Packing, Embolisation, Chirurgie: Dauert die hämodynamische Instabilität trotz adäquater Beckenstabilisation an, soll eine frühzeitige Blutungskontrolle und/oder prä-peritoneales Abstopfen („Packing“) und/oder angiographische Embolisation angestrebt werden (Grade 1B). Aortale Ballon-Okklusionen sollen nur bei Extrembedingungen zum Zeitgewinn eingesetzt werden (Grade 2C)

21. Der Einsatz von topischen Gerinnungshemmern empfiehlt sich in Kombination mit chirurgischen Maßnahmen oder Packing bei venösen oder moderaten arteriellen Blutungen aus parenchymalem Gewebe (Grade 1B)

 

V Initiales Blutungs- und Gerinnungsmanagement

22. Antifibrinolytika (Tranexamsäure TXA) soll dem blutenden Verletzten oder bei drohender Massivblutung so früh wie möglich, spätestens aber 3h nach Trauma mit einer Initialdosis von 1 g über 10 min verabreicht werden, gefolgt von einer Dauerinfusion von 1 g über 8 h (Grade 1A). Die präklinische Verabreichung der TXA auf dem Weg zum Krankenhaus ist bei aktiv blutenden Patienten sinnvoll (Grade 1C). Die Verabreichung braucht keine vorherige Gerinnungsuntersuchung mittels viskoelastischer Verfahren (Grade 1B)

23. Die Gerinnungstherapie soll monitor- und messungsgesteuert unmittelbar nach Eintreffen im Krankenhaus erfolgen (Grade 1B)

24. Das initiale Management mit massivem Blutverlust besteht aus den 2 folgenden Strategien:

    1. 1. Gefrierplasma (FFP) oder pathogen-inaktiviertes FFP in einem FFP:EK (Erythrozytenkonzentrat)-Verhältnis von 1:2 (Grade 1C)
    2. 2. Fibrinogenkonzentrat und EK (Grade 1C)

 

VI Zielgerichtetes Gerinnungsmanagement

25. Die Wiederbelebungs- und Stabilisierungstherapie sollte mit einer zielgerichteten Strategie (“goal-directed strategy“) weitergeführt werden, die entweder durch Standardlabor- Gerinnungswerte oder viskoelastische Methoden (VEM) gesteuert ist. (Grade 1B)

26. Wenn ein FFP-basiertes Gerinnungsmanagement verwendet wird, ist die Steuerung  mit Standardlaborparametern (Quick/INR und/oder aPTT auf über die 1.5-fachen Normalbereiche und/oder dem viskoelastischen Nachweis von Gerinnungsfaktorenmangel sinnvoll (Grade 1C). Bei Patienten ohne große Blutverlust soll die Transfusion von FFP ebenso vermieden werden (Grade 1B) wie zur Behandlung des Finrinogenmangels (Grade 1C)

27. Wird aber ein Gerinnungsfaktorenkonzentrat-basiertes Gerinnungsmanagement verwendet, ist die Steuerung mit Standardlaboratorparameter und/oder viskoelastischem Nachweis des funktionellen Faktorenmangels sinnvoll (Grade 1C). Bei normalen Fibrinogenspiegel soll dem blutenden PAtienten bei NAchweis einer verlängerten Initialphase in den Tests der VEM Prothombinkomplexpräparat  (PCC, PPSB, Beriplex) verabreicht werden (Grade 2C). Die Konzentrationsmessung von FXIII könnte in den Behandlungsalgorithmus des Gerinnungsmanagements eingeschlossen und bei blutenden Patienten mit funktionellen Nachweis eines FXIII Mangels verabreicht werden (Grade 2C)

28. Fibrinogenkonzentrat oder Kryopräzipitat soll verabreicht werden, wenn die Massivblutung mit niedrigen Fibrinogenspiegeln einhergeht (viskoelastische Messungen eines Mangels oder a Plasmaspiegel ≤ 1.5 g/L(Clauss-Methode) (Grade 1C). Eine initiale Dosis von 3–4 g beim Erwachsenen ist sinnvoll. Das ist äquivalent zu 15–20 Einzelspender-Einheiten Kryopräzipitat. Die Aufrechterhaltungsdosen könnten nach VEM und/oder Routinelabor-Spiegelmessungen gesteuert werden (Grade 2C)

29. Thrombozytenkonzentrate sollen zur Aufrechterhaltung einer Thrombozytenzahl von 50 × 109/L verabreicht werden (Grade 1C), bei Schädelhirntraumata oder therapieresistenter Blutung möglicherweise auch bis über 100 × 109/L (Grade 2C). Die empfohlene Verabreichungsform ist ein Poolkonzentrat aus 4-8 Einzelspenden oder ein Apheresekonzentrat (Grade 2C)

30. Der ionisierte Plasma-Kalziumspiegel soll gemessen und im normalen Bereich gehalten werden (Grade 1C). Zur Therapie kann Kalziumchlorid eingesetzt werden (Grade 2C)

31. Die Therapie mit rekombinantem aktivierten Factor VII (rFVIIa) soll nicht zu Beginn der Behandlung eingesetzt werden (Grade 1B). Der „off-label-Use“ von rFVIIa könnte bei therapieresistenter Massivblutung und Begleitkoagulopathie bei Versagen aller vorheriger Maßnahmen erfolgreich sein (Grade 2C)

 

VII Patienten unter gerinnungshemmenden Medikamenten

32. Bei blutenden Patienten unter Gerinnungshemmertherapie (Vitamin K-Antagonisten VKA, direkten oralen Faktor X-Hemmern und Thrombinantagonisten DOAC sowie Plättchenaggregationshemmern) sollen verfügbare Antidote verabreicht werden (Grade 1C) 

33. Der/die blutende Verletzte unter VKA profitiert von der frühen Verabreichung von Prothrombinkomplex PCC und 5 mg Vitamin K i.v. (Grade 1A)

34. Der/die blutende Verletzte, bei dem eine Einnahme von direkten Thrombinhemmern vermutet oder gesichert ist,  könnte von der Messung der Dabigatranplasmaspiegel mit der verdünnten Thrombinzeit TZ profitieren (Grade 2C). Ist die Messmethode nicht verfügbar oder möglich, kann eine Dabigatranwirkung möglicherweise auch mit der Standard-Thrombinzeit TZ abgeschätzt werden (Grade 2C). Bei lebensbedrohlichem Blutungsausmaß soll das Antidot Idarucizumab (5 g i.v.) (Grade 1B) verabreicht werden, begleitet von TXA 15 mg/kg (or 1 g) i.v. (Grade 2C)

35. Der/die mit Plättchenaggregationshemmern behandelte blutende Patient könnte von der Therapie mit Thrombozytenkonzentraten (TK) profitieren (Grade 2C). Die Behandlung mit TK ist außerdem für Patienten mit SHT empfohlen, die operiert werden müssen (Grade 2B). Ist keine chirurgische Intervention geplant, ist die Verabreichung von TK nicht sinnvoll (Grade 2B). Die Verabreichung von Desmopressin (0.3 μg/kg) könnte bei Verletzten sinnvoll sein, die mit Plättchenaggregationshemmern behandelt wurden oder eine von-Willebrand-Krankheit/Syndrom haben (Grade 2C)

 

VIII Thromboseprophylaxe

36. Der frühe Einsatz der mechanischen Thromboseprophylaxe mit intermittierender Wadenkompression (IPC) ist bei immobilen Patienten mit Blutungsrisiko sinnvoll (Grade 1C). Wir empfehlen der kombinierten Einsatz von pharmacologischer und IPC innerhalb von 24 h nach Stillung der Blutung und bis zur Mobilisierung (Grade 1B). Die Anwendung von Kompressionstrümpfen und der Routineeinsatz von Cava-Schirmen ist nicht empfohlen (beides Grade 1C)

IX Leitlinieneinsatz und Qualitätskontrolle

37. Wir empfehlen die lokale Anpassung der Empfehlungen in einen Evidenz-basierten Algorithmus oder lokale Handlungsanweisung (Grade 1B)

Blutungskontrolle und Outcome

38. Klinische Qualitätsmanagements- und Sicherheitssysteme sollen die Blutungskontrolle und das Outcome mittels geeigneter Parameter überprüfen (Grade 1B) 

 

Im Artikel sind Checklisten und Bundles tabellenartig angeführt. Dabei wird ein prä- und intrahospitales Maßnahmenbündel als auch ein Gerinnungstherapiebündel angeführt. Die Checkliste ist maßnahmenbegleitend im Schockraum oder prähospital abzuarbeiten und stellt sicher, dass nichts vergessen wird.

 

IAKH Kommentar: Die Neufassung der sehr komplexen Vorversion hat durch die Einpassung in Kapitel etwas an Übersichtlichkeit gewonnen. Das Volumenmanagement und die Einschätzung des Blutverlusts ist immer noch unbefriedigend. Meines Erachtens ist es einleuchtend, dass es dazu kaum Evidenz gibt. Andererseits wurde hier die Chance verpasst, die Techniken zu fordern. Auch einfache Schocklagerungsmaßnahmen wie der Passive Leg Test können prähospital oder im Schockraum durchgeführt und deshalb mit einem niedrigen Evidenzgrad gefordert werden. Das aktuellste Antidot fehlt (Andexanet für Edoxaban und Rivaraoxaban). 

Dennoch ergibt sich durch diese aktualisierte Leitlinie bei vielen Einrichtungen eine Anpassung ihrer Verfahrensanweisungen und SOPs. Die beachtenswerte Anzahl der Empfehlungen macht deutlich, dass diese komplexe Situation für den einzelnen Anwender nicht einfach ist. Ein Training der Situation hat sich bewährt (siehe Webseite der IAKH AG Simulation).

 

Pubmed

 

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Für Sie gelesen von Th. Frietsch

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