Anämiediagnostik und -Therapie Grad 1 Empfehlungen der 2022 ESC Leitlinien zur präoperativen Vorbereitung

Halvorsen S et al. 2022 ESC Guidelines on cardiovascular assessment and management of patients undergoing non-cardiac surgery. Eur Heart J 2022 ehac270, https://doi.org/10.1093/eurheartj/ehac270

ESC -Guideline: PBM Algorithmus zur Diagnostik und Behandlung der präoperativen Anämie

Die Leitlinien der europäischen Fachgesellschaft der Kardiologen (ESC) für das perioperative Management (präoperative Untersuchung und perioperative Therapie) von kardiovaskulär vorerkrankten Patienten bei nicht-herzchirurgischen Eingriffen wurden zusammen mit der Unterstützung der europäischen Fachgesellschaft für Anästhesiolgie und Intensivmedizin (ESAIC) upgedatet. Die wichtigste Neuerung ist die Aufnahme des Patient Blood Management (PBM) in diese wichtige europäische Leitlinie: Sie empfiehlt den Einsatz der maschinellen Autotransfusion und die präoperative Anämiediagnostik und -therapie mit höchstem Evidenz- und Empfehlungsgrad!

Die Zusammenstellung der europäischen Empfehlungen durch das interdisziplinäre große Autorengremium folgt einem transparenten und evidenzbasierten Vorgehen (siehe auf der Homepage der ESC). Die Mitglieder der Arbeitsgruppe wurden von der ESC nach den Gesichtspunkten einer repräsentativen Mischung von Mitgliedern der betroffenen Fachdisziplinen aus ganz Europa ausgesucht. Die Leitlinienabfassung ist ohne industriellen Sponsor ausschließlich von der ESC finanziert worden und beinhaltet einen außergewöhnlich gründlichen Gutachterprozess. Die Langfassung der Leitlinie, Kurzfassungen, auch in Übersetzung, Vortragsvorlagen und selbst eine App-basierte Version sind kostenlos von der ESC-Seite erhältlich. Die HTML-Version ist beinahe übersichtlicher, weil es nur die Empfehlungen in Tabellenform enthält. Die hinter den Empfehlungen steckenden Begründungen und Datenlage können aber im PDF nachgelesen werden.

Das hundertseitige Dokument enthält als neue Inhalte die Empfehlungen zum Management des gebrechlichen Patienten, des kürzlich Covid-genesenen Patienten, zur perioperativen Thromboseprophylaxe, zum Patient Blood Management-Konzept und neue Empfehlungen zur postoperativen Komplikationen sowie überarbeitete Empfehlungen des perioperativen Management der Plättchenhemmung und oralen Antikoagulanzien.

Wie üblich wurde ein Empfehlungsgrad I (soll, "is recommended, indicated"), IIa (sollte, "should be considered"), IIb (kann, "may be considered"), III (soll nicht, "is not recommended") und ein Evidenzgrad A (mehrere RCT oder Meta-Analyse), B (eine RCT oder mehrere nicht-randomisierte Observationsstudien) und C (Expertenkonsens, retrospektive Studien, Registerdaten) angegeben, um die Empfehlungen zu gewichten.

Die oben fett gedruckten Kapitel (welche die Hämotherapie betreffen) haben wir in ihren Kernaussagen ganz kurz zusammengefasst und in Auszügen (nur Grad 1 Empfehlungen, nicht vollständig) wiedergegeben (die ausführliche PDF Langversion ist unten verlinkt):

5.3.1 Peri-operatives Management der Patienten mit Thrombozytenaggregationshemmern ("handling of antithrombotic agents")

5.3.1 - Nach einem perkutanen Koronareingriff soll ein elektiver nicht-herzchirurgischer Eingriff für 6 Monate, nach einem akuten Koronarsyndrom für 12 Monate verschoben werden - Empfehlungsgrad 1A

5.3.2 - Nach einem elektiven Koronareingriff sollen dringendere Eingriffe erst 1 Monat nach dem Absetzen der dualen Plättchenhemmung terminiert werden - Empfehlungsgrad 1B

5.3.3 - Bei Z.n. koronarer Intervention soll perioperativ ASS fortgeführt werden - Empfehlungsgrad 1B

5.3.4 - Wenn das Absetzen von P2Y12 Plättchenhemmern indiziert ist (s.o.), ist das Intervall für Ticagrelor 3-5 Tage präop., Clopidogrel 5 Tage und Prasugrel 7 Tage präop. empfohlen - Empfehlungsgrad 1B

5.3.5 - Für Eingriffe mit hohem Blutungsrisiko (Ophtalmologie, Neurochirurgie (kranial wie spinal) soll ASS mind. 7 Tage vorher abgesetzt werden - Empfehlungsgrad 1C

5.3.6 - Die Plättchenhemmer sollen spätestens 48h nach dem Eingriff wieder gegeben werden, wenn es das interdisziplinäre (Blutungs-) Management zulässt - Empfehlungsgrad 1C

  • In Tab. 9 findet sich eine Einteilung des Blutungsrisikos verschiedener chirurgischer Eingriffe
  • In Tab. 7 sind die gängigen Medikamente mit ihren pharmakologischen Charakteristika übersichtlich dargestellt
  • Abb. 5 enthält Empfehlungen in übersichtlicher Algorithmusform zum Absetzen oder zur Fortführung der dualen Plättchenhemmung
  • Abb. 6 gibt Zeitspannen zur Terminierung elektiver Eingriffe nach endokoronarem Eingriff und P2Y12 Medikation
  • Abb. 7 zur Überbrückung der Thrombozytenaggregationshemmung unter Weiterführung der ASS-Medikation bei nicht-verschiebbarem Eingriff
  • In Tab. 8 sind die gängigen orale Antikoagulanzien mit ihren pharmakologischen Charakteristika übersichtlich dargestellt

5.3.2 Peri-operatives Management der Patienten mit oralen Antikoagulanzien ("NOAC")

5.3.6 - Wenn eine dringende Operation indiziert ist, sollen NOAC sofort unterbrochen werden - Empfehlungsgrad 1C

5.3.7 - Bei Eingriffen mit mittlerem und höherem Blutungsrisiko soll das Ab- und Wiederansetzen der NOAC einer (der in Abb. 10) Strategie folgen, die das Blutungsrisiko, die Nierenfunktion und das jeweilige Präparat der NOAC berücksichtigt - Empfehlungsgrad 1B

5.3.8 - Bei kleineren Eingriffen und Eingriffen ohne erhöhtes Blutungsrisiko soll das jeweilige NOAC fortgeführt/nicht unterbrochen werden - Empfehlungsgrad 1B

5.3.9 - Niedermolekulares bzw. unfraktioniertes Heparin soll bei hohem Blutungsrisiko und Patienten mit einer mechanischen Herzklappe zum Bridging verwendet werden - Empfehlungsgrad 1B

5.3.10 - Bei niedrigem Blutungsrisiko sollen Patienten unter NOAC auf Talspiegelniveau (12-24h nach letzter Einnahme) operiert werden - Empfehlungsgrad 1C

  • In Abb. 9 wird das Absetzen der verschiedenen NOACS im Intervall unter Berücksichtigung des Einnahmemodus und Blutungsrisiko des Eingriffs dargestellt
  • In Abb. 10 ist ein schöner Überblick zu den Intervallen des Absetzens der NOAC je nach Blutungsrisiko des Eingriffs und Nierenfunktion (GFR) des Patienten bei Dabigatran zu finden

5.4 Peri-operative Thromboseprophylaxe

  • Die Leitlinie empfiehlt den CAPRINI-Score zur Festlegung des perioperativen Thromboserisikos (validiert für viele chirurgische Bereiche, bis auf die Orthopädie): siehe Abbildung Tab. S7

   Tabelle S7: Caprini Score

  • Thromboseprophylaxe soll für Patienten ab einem mittleren (5-8) und hohen Score (>8) erwogen werden
  • eine anamnestisch durchgemachte venöse Thromboembolie ist der gewichtigste Risikofaktor
  • gewöhnlich reicht eine Dauer der Thromboseprophylaxe bis zur Entlassung aus dem Krankhaus

5.4.1 - Die perioperative Thromboseprophylaxe soll nach eingriffspezifischen und individuellen Kriterien festgelegt werden - Empfehlungsgrad 1A

5.4.2 - Die Wahl der Antithrombotika (NMH, UFH, Fondaprinux, DOAC) soll sich nach der Art der Operation, individuellen Faktoren und Dauer der Immobilisation richten - Empfehlungsgrad 1A

 

5.5 Patient-Blood Management PBM

  • Da Bluttransfusion das Outcome nach großen chirurgischen Eingriffen verschlechtert und präoperative Anämie bei den transfundierten Patienten eine weitere Halbierung des Langzeitüberlebens bedeutet, vermutlich über myokardiale Ischämien beim kardiovaskulär vorerkrankten Patient, hat sich die aktuelle ESC-Leitlinie 2022 erstmalig dem PBM gewidmet. Eisenmangel wird mit bis zu 50% als zugrundeliegende Ursache der Anämie angegeben.

 

Grad I Empfehlungen - "soll"

5.5.1 - Bei mittlerem und hohem Blutungsrisiko des chirurgischen Eingriffs soll der präoperative Hämoglobinspiegel gemessen werden - Empfehlungsgrad 1B

5.5.2 - Die präoperative Anämie soll vor dem Eingriff behandelt werden, um die Notwendigkeit für eine Bluttransfusion zu reduzieren - Empfehlungsgrad 1A

5.5.3 - Bei einer Blutungswahrscheinlichkeit/chirurgischem Blutverlust von über 500ml soll die maschinelle Autotransfusion benutzt werden - Empfehlungsgrad 1A

5.5.4 - Wenn verfügbar soll eine Point of Care Gerinnungsdiagnostik zur Steuerung der Therapie mit Blutprodukten verwendet werden - Empfehlungsgrad 1A

 

Grad II Empfehlungen - "sollte"

  • Der hier ganz oben stehende Algorithmus zur Diagnostik und Therapie der präoperativen Anämie sollte vor großen und mittleren Eingriffen abgearbeitet werden. (Empfehlungsgrad 2aC)
  • Die Verabreichung von Tranexamsäure sollte bei größeren Blutungen unverzüglich erwogen werden. (Empfehlungsgrad 2aA)
  • Sorgfältige Blutstillung und Hämostase sollte als normaler Standard gelten. (Empfehlungsgrad 2aC)
  • Blutsparende Abnahmesysteme (Closed Loop-Arterien) für die arteriellen Druckabnehmersystem und der Blutgasanalyse sollten verwendet werden. (Empfehlungsgrad 2aB)
  • Ein Feedback-/Monitoring-System zum EInsatz der Blutkonserven oder das Clinical-Decision-Support-System sollte vor der Gabe von Blutprodukten eingesetzt werden. (Empfehlungsgrad 2aB)
  • Vor dem Einsatz von Fremdblutprodukten sollten die Risiken der Transfusion ausführlich besprochen werden.(Empfehlungsgrad 2aC)

 

Kommentar:

Es ist ausserordentlich zu begrüßen, dass die Anämietherapie jetzt in einer auch für uns in Deutschland gültigen Leitlinie mit einer überzeugenden Empfehlung aufgenommen ist. Das erleichtert die Standpunktvertretung in vielen Diskussionen. Ebenso bedeutsam ist, dass der Einsatz der maschinellen Autotransfusion bei großen Blutverlusten unabhängig vom präoperativen Blutvolumen empfohlen wird. Das bedeutet auch, dass die (wie auch in der Querschnittsleitlinie Hämotherapie von 2020 nicht mehr zu findende) Empfehlung des mit Fremdblut vergleichbaren Transfusionstriggers von autologem Blut auch von kardiologischer Seite verlassen wurde und das Risiko der Volumenüberladung durch die Retransfusion in der perioperativen Situation als extrem gering interpretiert wird. Das bestätigt unsere Erfahrung, einer amerikanischen Analyse (DeAndrade D, Waters JH, et al. Very low rate of patient-related adverse events associated with the use of intraoperative cell salvage. Transfusion 2016, 7. Juli, epub ahead of print, oi:10.1111/trf.1379) und die französischen Qualitätsdaten zu den Nebenwirkungen der maschinellen Autotransfusion.

Beachtlich ist, dass die Evidenzbewertung der europäischen Kardiologen in vielen Bereichen, insbesondere jedoch was die Therapie der präoperativen Anämie angeht, sehr viel näher an der klinischen Realität ist als es noch eine internationale PBM-Konferenz vor kaum 4 Jahren vermochte. Aber wahrscheinlich ist jetzt die Evidenzlage sehr viel deutlicher ...

Pubmed

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Für Sie gelesen von Th. Frietsch

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