Tranexamsäure kritisch betrachtet

Lier H, Shander A. Tranexamic acid: the king is dead, long live the king!. Br J Anaesth. 2020 Jun;124(6):659-662. doi: 10.1016/j.bja.2020.02.015.

Das Editorial von Lier & Shander bezog sich auf die Meta-Analyse von Agaron FX et al. The effect of tranexamic acid by baseline risk in acute bleeding patients: a meta-analysis of individual patient-level data from 28 333 patients. Br J Anaesth. 2020 Mar 18. pii: S0007-0912(20)30083-0. doi: 10.1016/j.bja.2020.01.020. (Link zur Pubmed, zum Open Access PDF).

In der retrospektiven Datenanalyse der Autoren der "Antifibrinolytics Trials Cooperation" um Ian Roberts in London war versucht worden, die Effektivität von Tranexamsäure (Txa) in Abhängigkeit vom Verblutungsrisiko darzustellen. Dazu waren Studien gesucht worden, in denen Patienten in den ersten 3h nach Einsetzen einer Blutung mit Txa behandelt wurden. Das besondere an dieser Meta-Analyse ist die Unterteilung der Patienten in Gruppen, die das Risiko zu Verbluten als niedrig (0-5%), intermediär (6-10%), hoch (11-20%) und sehr hoch (über 20%) abbildeten. In den zwei gefundenen Studien Crash II und WOMEN (wir berichteten in "Für Sie gelesen" über Crash-III, Txa bei Schädel-Hirntraumata) mit zusammen über n=28 000 Patienten wurde dabei nur der Tod durch die Blutungsursache gewertet. Das Risiko des Verblutens war aber bei über 80% aller eingeschlossenen Patienten gering.

Die Analyse ergab, dass Txa in allen Kategorien von niedrig bis sehr hoch (Verblutungsrate 1%, 8%, 14% und 30%) innerhalb von 3h gleich effektiv und auch das Thromboembolierisiko in keiner Risikogruppe erhöht war.

Daraus schlussfolgern die Autoren, dass Txa auch unabhängig vom Blutungsrisiko sicher und effektiv ist. Sie sind der Meinung, dass der frühzeitige Einsatz besser ist als die eigentliche Zulassungsindikation für den schweren koagulopathischen Blutungsnotfall. Die Beschränkung der Wirksamkeit auf die ersten 3h nach Blutungsbeginn erfordert die frühzeitige Verabreichung und nicht erst das Abwarten bis zum Versagen aller anderen Blutstillungsmaßnahmen bei größeren Traumata.

Im kritischen Editorial verweisen Heiko Lier und Aryeh Shander auf die Ausnahmestellung dieser Empfehlung, die sonst nirgendwo zu finden ist (angeführt werden die WHO Empfehlungen zur postpartalen Hämorrhagie (PPH), das Consensus Statement von NATA, ESA, EBCOG und FiGO als auch die aktuelle europäische Traumaleitlinie). Sie begründen die Tatsache, dass sich sonst und mit Recht nur restriktive Anwendungsempfehlungen in gängigen Leitlinien fänden, mit der unsicheren Evidenzlage.

Der verwendete statistische Risikoschätzer "RR" zeigt in den kontrollierten Txa-Studien an, dass eventuell eine unsichere Beziehung zum Txa-Effekt und dem untersuchten Outcome bestand. Auch die Anzahl der Patienten (number-needed-to-treat (NTT)) für den durch Txa zu erzielenden Behandlungseffekt sei unerwartet hoch, die Effektivität also extrem niedrig: Verhinderung des Verblutens (CRASH2-NNT=119, WOMAN-NNT=200). Der Anteil von Patienten, die mit Txa behandelt werden, die es aber nicht bräuchten, sei in allen Risikokategorien der Agaron-Analyse hoch: Er reicht von 99% in der niedrigsten Risikogruppe bis zu 86% in der höchsten Risikogruppe!

Jetzt könnte man annehmen, dass Txa gerade aufgrund der hohen Anzahl von Anwendungen ohne eigentliche Indikation bedenkenlos liberal anzuwenden ist. Aber Lier und Shander legen genau da den Finger in die Wunde: Die Thromboembolierate in der CRASH und WOMEN-Studie seien umplausibel, da sie auch in der Placebogruppe nicht mit der sonstigen Prävalenz in der Bevölkerung übereinstimmte und nicht mit der Rate an Thromboembolien von einigen Meta-Analysen übereinstimmte. Ein Grund könnte neben methodischen Ursachen der Ausschluss von Patienten mit Thromboembolien in der Vorgeschichte sein. Der Ausschluss solcher Risikopatienten ist aber nicht der Realität entsprechend, wenn die Zulassungsbeschränkungen des Medikaments nicht beachtet werden.

In einigen der bisherigen Txa-Studien ist die Rate dann eher bedenklich, wenn nicht alarmierend: "Matters" (Military Application of Tranexamic Acid in Trauma Emergency Resuscitation) zeigt eine 9-fache Rate an Lungenembolien (LE) und 12-fache an Beinvenenthrombosen (TBVT); gerade bei militärischem Einsatz war die Thromboembolie um über 60% erhöht. In der CRASH3 war die Rate für TBVT um 22%, Gefäßverschlüsse um 13%, Nierenversagen um 28%, Schlaganfall um 28%, Epilepsie um 21% und Sepsis um 4% erhöht.

Lier und Shander wiesen darauf hin, dass es also wichtig sei, Txa lediglich im Rahmen der zugelassenen Indikationen einzusetzen und eine zu liberale Anwendung z.B. zur Blutungsprophylaxe zu unterlassen. Sie hatten auch erst kürzlich im Dezember 2019 eine sehr lesenswerte Übersichtsarbeit zum Einsatz der Txa in "Anesth Analg" veröffentlicht: Tranexamic Acid for Acute Hemorrhage: A Narrative Review of Landmark Studies and a Critical Reappraisal of Its Use Over the Last Decade.

Der Schlussfolgerung der Autoren um Ian Roberts muss also auch aus meiner Sicht deutlich widersprochen werden und der prophylaktische Einsatz von Txa auf die Gruppe von Patienten beschränkt werden, für die Txa erprobt und sicher ist: Für die mit lebensgefährlichen Blutungen und jene ohne vorbekannte thromboembolische Risiken! Da deutsche Anästhesisten sich immer öfter dem orthopädischen und chirurgischen Wunsch nach pharmakologischer Blutstillung ausgesetzt sehen, sind diese Arbeiten eine wichtige Argumentationshilfe.

Pubmed

 

Für Sie gelesen von Th. Frietsch

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