Transfusionsentscheidungen in der Intensivmedizin

Kranenburg FJ et al. Predicting organ functioning with and without blood transfusion in critically ill patients with anemia. Transfusion. 2022 Jun 30. doi: 10.1111/trf.16998.

Bei nicht-blutenden stabilen Intensivpatienten ist eine restriktive Transfusionshaltung hinsichtlich Erythrozytenübertragung empfohlen und das schon seit über 20 Jahren. Wir können anhand der komplexen Entscheidungskriterien auf Intensiv auch die sehr individuellen Faktoren, die zur Transfusion führen, nicht genau in Empfehlungen gießen. Doch wie begründet sind unsere Entscheidungen für oder gegen eine Versorgung mit Blutprodukten im individuellen Fall und welche Folgen haben sie für die Patienten?

Eine niederländische Autorengruppe hat Daten zu den individuellen Entscheidungsmomenten für Erythrozytenkonzentrate (EK) aus knapp 30 000 Hämoglobinwerten von ca. n=5700 Intensivpatienten ausgewertet und die Folgen für die Organfunktion am nächsten Tag (beurteilt anhand des SOFA Scores) dargestellt. Bescheidenheit ist angebracht:

Die retrospektive Analyse der Intensivpatienten erfolgte aus den Jahren 2004-2016 am Universitätskrankenhaus in Leyden. Auf der gemischten Intensivstation gilt ein Transfusionstrigger von 7,2-8 g/dl oder Symptomen, getroffen von Fachärzten oder Assistenten mit fachärztlichem Hintergrund ohne Support Decision Software. Entscheidungsmomente waren alle Hämoglobinkonzentrationen zwischen 6 und 9 g/dl. Nur länger auf der ICU liegende Patienten (> 10 Tage) wurden ausgesucht, um stabilere Grundbedingungen zu gewährleisten. Die der Transfusionsentscheidung zugrundeliegenden Laborwerte, ob daraufhin in den nächsten 6h transfundiert wurde oder nicht und wie sich der SOFA Score (Sepsis-related or Sequential Organ Failure Assessment) am nächsten Tag veränderte, wurden notiert.

Zur Erinnerung für nicht-mehr-Intensivmediziner: Der SOFA-Score wird alle 24 Stunden bestimmt. Je höher desto ausgeprägter das Organversagen. Die Entwicklung des Wertes im Verlauf der intensivmedizinischen Behandlung gibt Auskunft über das Mortalitätsrisiko. Dabei kann sowohl die Summe der Punkte als auch die Punkteentwicklung der einzelnen Organe betrachtet werden. Bewertet werden Atmung (paO2/FiO2), ZNS (GCS), Herz-Kreislauf (MAP +/- Katecholamin), Leber (Bili), Gerinnung (Plt), Niere (Krea) mit jeweils 0 bis 4 Punkten zu max. Score von 24.

Insgesamt wurden im Zeitraum knapp 20 000 Patienten behandelt, davon wurden n=5756 mit kompletten Studiendaten ausgesucht. Dieses Kollektiv war im Durchschnitt 65 Jahre alt, zu 80% beatmet und zu 50% internistisch, 50% chirurgisch.

Von knapp 30 000 Entscheidungsmomenten mit einem Hämoglobinspiegel [Hb] zwischen 6 und 9 g/dl waren nur 22 % von einer Erythrozytentransfusion gefolgt. Je niedriger der [Hb], desto häufiger die Entscheidung für eine Transfusion (von 9,7%, zu 44,5% zu 66,9%).

Der durchschnittliche Behandlungseffekt auf den SOFA Score war 0.08 (95%CI -0.03 to 0.18) und damit vernachlässigbar. Obwohl man schon einen leichten Trend zur Verschlechterung durch die Maßnahme je niedriger der Ausgangs-[Hb] (-0.09 (95%CI -0.46 to 0.28 für den [Hb] von 6-7g/dl, 0.01 (95%CI -0.13 to 0.15) für den [Hb] von 7-8g/dl und 0.17 (95%CI 0.00 to 0.34) für den [Hb] von 8-9g/dl) feststellen konnte, war für das Gesamtkollektiv eine Verschlechterung des SOFA Scores im Vergleich zu den Nicht-Transfundierten Intensivpatienten zu vermerken (Differenz SOFA 0.34 (95% CI, 0.14 to 0.53), ebenso für Beatmete versus Nicht-Beatmete 0.19 (95% CI +0.05 to 0.32), für hohe versus normale Laktatspiegel 0.22 (95% CI 0.04 to 0.41). Die erreichten Veränderung sind mit der Verteilungsform als nahezu perfekte Gaußsche Verteilung abbildbar.

Natürlich ist aus dieser retrospektiven Arbeit nicht zu schließen, dass EK-Transfusion das Organversagen verschlimmert. Ein sogenannter Confounder-by-Indication-Effekt ist nicht gänzlich auszuschließen (Transfusionen und zunehmende Anämie durch klinische Verschlechterung gehen Hand in Hand, deshalb sind die SOFA Scores der Transfundierten schlechter). Allerdings gibt zu denken, dass sich hier im Vergleich zu den Nicht-Transfundierten im gleichen Anämiebereich eine Verschlechterung der Organfunktion ergab.

Und die Resultate der Arbeit könnten uns darauf hinweisen, dass

  • wir bei der Vorhersage der Wirkung unserer Intensivtherapie hinsichtlich Transfusionen immer noch zu positiv denken,
  • dass der kritische untere Hämoglobinbereich bei den meisten asymptomatischen Patienten mit 7g/dl nicht erreicht ist und
  • dass wir mangels Monitoring und technischer Messbarkeit der Ischämieschwelle unsere Transfusionsentscheidungen auf eine nicht individuell aussagekräftige Basis stellen.

Die Suche nach einem Parameter der uns die Ischämiegefahr für den individuellen Patienten tatsächlich anzeigt und der sich noninvasiv und unkompliziert messen lässt geht weiter.

 

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Für Sie gelesen von Th. Frietsch

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