In der zweiten Hälfte 2019 wurde durch Informationen von Mitgliedern und Medienberichte bekannt, dass ein Einsatz und eine Vorhaltung von zellulären und plasmatischen Blutprodukten in verschiedenen bodengebundenen und luftgestützten Rettungsmitteln verschiedener Träger (wie der DRF, des Katastrophenschutzes, von lokalen Blutspendediensten, etc.1) bereits stattfindet und weiter etabliert werden soll.

Die Vorhaltung sieht eine Kombination von täglich gewechselten 2 Universal- Erythrozytenkonzentraten (EK) und 2 Frischplasmen oder LyoPlas-Präparaten in Kühlboxen vor.

Grundsätzlich sehen wir als interdisziplinäre Hämotherapeuten eindeutig den Bedarf, den schwer blutenden Patienten so früh wie möglich mit Gerinnungstherapeutika zu versorgen und unterstützen daher die Initiative prinzipiell.

Die IAKH möchte an dieser Stelle dennoch, wenn auch konstruktive Kritik am Vorgehen der Initiatoren wie Betreiber der Rettungsdienst-Organisationen äußern:

  1. Die Vorhaltung von 2 Dosen Frischplasmen ist nicht effektiv und deshalb nicht erfolgversprechend (was ist die Aussage: ist die Vorhaltung von nur 2 Dosen Frischplasmen ungenügend? Oder für die prähospitale Vorhaltung von Frischplasmen gibt es keine hinreichende Indikation?, die jetzige Formulierung ist in der Aussage unklar). Die gekühlte Bereitstellung von nur 2 EK ist ebenfalls bei schweren Blutungen unzureichend und sollte mindestens verdoppelt werden. Die Dosierung muss für erwachsene Trauma-Opfer deutlich höher (z.B. 6-8) gewählt und durch Fibrinogen und Tranexamsäure ergänzt werden.

  2. Die Schnittstellenproblematik mit den hospitalen Aufnahme- und Behandlungseinheiten soll so sicher und fehlerfrei organisiert werden, dass eine lückenlose und gut ineinandergreifende Organisation und eindeutige Verantwortungskennzeichnung gegeben ist. Dafür ist eine Abstimmung mit vielen Notaufnahmen und Intensivstationen beispielsweise über die deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensivtherapie und Notfallmedizin DIVI empfohlen.

  3. Eine verlässliche Datenlage fehlt.

• Viele Publikationen zu diesem Thema sind unplausibel im Ergebnis und weisen inakzeptable Defizite auf:

Die reine Observationsstudie von Shackelford et al. in JAMA 20172 vergleicht n=55 Soldaten, die mit 1 EK versorgt wurden, mit n=447 standard-therapierten Patienten. Die EK-Gruppe war präklinisch durch die häufigere Anwendung von Tranexamsäure (87% vs. 45% in Kontrolle), Tourniquets (85% vs. 45% Kontrolle) und die Betreuung durch ein Expertenteam besser behandelt. Ein Mortalitätsunterschied durch die Anwendung nur eines EKs bei jungen gesunden Soldaten mit einer Hämoglobinkonzentration über 8g/dl ist nicht plausibel. Die Cluster-randomisierte Studie von Sperry et al NEJM 20183 mit n=7200 Notfallpatienten analysiert aus nicht angegebenen Gründen nur n=400 davon. Verglichen wurden n=230 Behandlungen mit 2 Einheiten Plasma vs. n=271 Kontrolle. Alle Patienten bekamen Volumensubstitution, jedoch nur ungenügende Volumina (500-900 ml) und lediglich die Hälfte war präklinisch intubiert. Auch hier ist der Mortalitätsunterschied unplausibel.

• Die Effektivität und der logistische Aufwand dieser Maßnahme in Deutschland ist unklar.

Ebenso ist die Fragestellung ungeklärt, in welchem Einsatzgebiet und Transportzeiten der meiste Benefit erzielt werden kann. Deshalb sollte diese Maßnahme wissenschaftlich erforscht und begleitet werden. Die Einbettung dieses Systems, das z.B. in Dänemark gut etabliert ist, in das deutsche, vorwiegend bodengebundene Wesen der Notfallmedizin mit meist kurzen Einsatz- und Transportzeiten und Notärzten vor Ort muss erst untersucht werden. Außerdem zeigt der internationale Vergleich, dass die prähospitale Transfusionsfrequenz selbst in Zentren die fast ausschließlich Trauma-Versorgung betreiben gering ist (max. 5%)4, wie z.B. in der London Air Ambulance. Die internationale aktuelle Datenlage lässt derzeit keine definitive Aussage bezüglich Effektivität, also Mortalitätsreduktion, zu5. Gemäß des Trauma-Registers der DGU, Jahresbericht 2019, hatten 8,3% der eingeschlossenen Patienten am Unfallorteinen Schock mit systolischem Blutdruck von ≤90 mmHg; im Schockraum wurden 6,9% der Patienten transfundiert. Eine Analyse von Daten aus England und Wales ergab 2016eine Inzidenz für „major haemorrhage“ (≥4 EK/24h) von 83 pro 1 Mio. Einwohner undfür „massive haemorrhage“ (≥10 EK/24h) von 23 pro 1 Mio. Einwohner6. Bei etwa 82 Mio. Einwohnern in Deutschland könnten somit rund 2.000 Patienten pro Jahr transfundiert werden, von denen potenziell 30-50% (zumindest über die ersten 24h) gerettet werden könnten.

               4. Durch die entsprechenden Medienplatzierungen der Transfusionsberichte aus Helikoptern mit Blutprodukten entsteht mittlerweile ein gewisser Druck auf alle Luftrettungsstationen, die Mitführung von Blutprodukten zu überdenken. Wenn man z. Zt. in führenden Tageszeitungen wiederholt lesen kann, dass der polytraumatisierte Patient „nur durch die Bluttransfusion des Rettungshubschrauberteams überleben konnte“, wird der Öffentlichkeit bald nur schwer zu erklären sein, warum es verstorbene Trauma-Patienten gibt, die keine Transfusion bekommen haben ...

Eine Rückführung von der emotionalen und öffentlichkeitswirksamen auf eine wissenschaftlich fundierte Ebene ist dringend notwendig und sollte von der DIVI und der IAKH hiermit angeregt werden. Dabei sind Initiativen zur Mitführung von Blutprodukten auf Rettungshubschraubern sicher nicht abzulehnen, sollten jedoch in ihrer Bedeutung hinsichtlich der Trauma-Mortalität realistisch betrachtet werden.

              5. Die stringente Umsetzung bestehender Leitlinien (AWMF S3 Polytrauma und Europäische Trauma-Leitlinien7) ist vorrangig. Im Fokus der präklinischen Trauma- Versorgung und deren kontinuierlichen Verbesserung der Blutstillung sollten bislang eindeutig empfohlene Therapiemaßnahmen zur Vermeidung des Blutverlusts stehen und erst nachrangig der Blutersatz. Diesbezüglich sollte auch die Sektion Trauma befragt werden. Zahlreiche Studien (inkl. aktuelle Trauma-Registeranalysen) zeigen, dass deren vollständige Umsetzung noch lange nicht bei jedem Patienten angekommen ist (z.B. zu wenig oder falsch platzierte Beckenschlinge, fehlende Tourniquets, zu lange präklinische zeitkritische Transporte, zu lange Diagnostik im Schockraum, inadäquates Gerinnungsmanagement etc.). Damit kann nach gut evidenz-basierter Datenlage effektiv „Leben gerettet“ werden.

 

Aus diesen Beweggründen fordert die IAKH die interdisziplinäre Konzeption erfolgversprechender Therapieschemata und die Evaluation der zukünftigen Aktivitäten, unter Einbezug der Sektionen Hämotherapie/Hämostaseologie Notfallmedizin/Trauma als gemeinsame Forschungsarbeit.

Zu klärende Fragestellungen sind effektive Konzeptionen von Gerinnungs- und Blutkomponenten, Anwendungs- und Schnittstellensicherheit, Effektivität und Notwendigkeit in Deutschland.
Vor dem Hintergrund eines Marketing-Wettbewerbs der verschiedenen Luftrettungsanbieter sehen wir unsere Aufgabe als wissenschaftliche Hämotherapie- Experten in der IAKH darin, die Umsetzung der Hot-Topics und „To Do’s“ der aktuellen Leitlinien der präklinischen Trauma- Versorgung zusammen mit z.B. den Sektionen Hämotherapie und Notfallmedizin der DIVI und zusammen mit den Traum-Register-Experten der DGU zu erreichen und zeitgleich auf relevante Limitationen der präklinischen Transfusionsstudien hinzuweisen.

 

Stellvertretend für den Vorstand

gezeichnet 

 

Prof. Dr. med. Th. Frietsch, MBA

1. Vorsitzender der IAKH

 

Literatur:

1 https://m.drf-luftrettung.de/de/leben/aktuelles/erstmalig-leben-dank-blutkonserven-bord-gerettet

2 Shakelford SA et al. Association of Prehospital Blood Product Transfusion During Medical Evacuation of Combat Casualties in Afghanistan With Acute and 30-Day Survival. JAMA 2017 Oct 24;318(16):1581-1591. doi: 10.1001/jama.2017.15097.

3 Sperry JL et al. Prehospital Plasma during Air Medical Transport in Trauma Patients at Risk for Hemorrhagic Shock. N Engl J Med 2018 Jul 26;379(4):315-326. doi: 10.1056/NEJMoa1802345.

4 Rehn M, Weaver A, Brohi K et al. Effect of Prehospital Red Blood Cell Transfusion on Mortality and Time of Death in Civilian Trauma Patients. Shock 2019; 51: 284-288. doi:10.1097/SHK.0000000000001166

5 Shand S, Curtis K, Dinh M et al. What is the impact of prehospital blood product administration for patients with catastrophic haemorrhage: an integrative review. Injury 2019; 50: 226-234. doi:10.1016/j.injury.2018.11.049

6 Stanworth SJ, Davenport R, Curry N et al. Mortality from trauma haemorrhage and opportunities for improvement in transfusion practice. Br J Surg 2016; 103: 357-365. doi:10.1002/bjs.10052

7 Spahn DR et al. The European guideline on management of major bleeding and coagulopathy following trauma: fifth edition. Crit Care 2019 Mar 27;23(1):98. doi: 10.1186/s13054-019-2347-3.
 
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